Impuls zum 15. August 2021
Von Susanne Warmuth (Aschaffenburg),
Geistliche Beirätin pax christi Würzburg
Einführung
„Es ist unmöglich, einen Kuss durch Boten zu überbringen“. Dieser Satz von Anthony de Mello ist mir beim Lesen des heutigen Evangeliums eingefallen. Es gibt Dinge, die kann man nur persönlich und in direkter Begegnung guttun: einen Menschen trösten, ihm beistehen, Gemeinsames teilen. Maria eilt zu Elisabet, die „guter Hoffnung ist“. Mit Elisabet will sie diese Hoffnung leben, ihr beistehen, ihr nahe sein. „Und Maria blieb etwa drei Monate bei ihr“. Es war kein Kurz-Besuch, keine Pflichtvisite, es waren – so stelle ich mir vor – drei Monate intensiver Begegnung.
Wie schmerzlich es ist, wenn wir auf Begegnungen, auf menschliche Nähe, auf Umarmungen verzichten müssen, das haben wir in der Pandemie erlebt. Gerade in Augenblicken, in denen Menschen eine feste Umarmung gebraucht hätten, war diese verboten. Der erzwungene Verzicht auf Berührungen und liebevolle Gesten hat uns wieder ins Bewusstsein gehoben, wie lebenswichtig und heilsam die gute Nähe von Menschen ist. Zum Glück gab und gibt es in der Corona-Zeit viele kreative Lösungen, um Kontakte zu halten und zu pflegen. Aber trotz aller guten Alternativen gilt immer noch: „Es ist unmöglich, einen Kuss durch Boten zu überbringen“.
Evangelium
Lukas 1,39 – 56
Begegnungen mit Maria
Im Jahre 1989 verbrachte ich erstmals mehrere Monate in der Nähe von Recife im Nordosten Brasiliens. Ich lebte und arbeitete dort in einem Tagesheim für Kinder und Jugendliche, die in den Favelas zu Hause waren. Ich hatte viel Kontakt zu den Kindern und ihren Familien (wobei der Vater fast immer fehlte), zu den Lehrer*innen und den Angestellten im Centro de Formação. Mit den Franziskanerinnen von Maria Stern, ebenfalls im Heim tätig, war ich eng verbunden. Darüber hinaus kannte ich bald viele Gemeindemitglieder aus der Pfarrei, oder besser, sie kannten mich, die Deutsche. Schon nach kurzer Zeit fühlte ich mich dazugehörig, was sicher der Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Brasilianer*innen zu verdanken war.
Die Volksfrömmigkeit und die Marienverehrung irritierten und faszinierten mich gleichermaßen. Zunächst erinnerte mich die Marienverehrung dort an die traditionelle katholische Marienfrömmigkeit meiner Heimat, von der ich mich innerlich entfernt hatte. Vor allem konnte ich mit den Attributen, die Maria gegeben wurden, nichts anfangen. Maria, die reine Jungfrau, der Tempel Gottes, der starke Turm Davids usw. Diese Maria hatte mit meinem Leben nichts zu tun.
In Brasilien konnte ich der Marienverehrung nicht ausweichen – wollte ich mich nicht selbst ausschließen. Ich ließ mich ein auf die Gebete und die hoch emotionalen Lieder. Bald sang ich auch mit bei „Pelas estradas da vida“ (Auf den Straßen des Lebens), dem Lieblingslied vieler Gemeinden. Die eingängige Melodie und der leichte Text halfen dabei. Die erste Strophe lautet:
Auf den Straßen des Lebens bist du niemals allein
mit dir zusammen ist Maria unterwegs.
Oh, geh doch mit uns, geh mit auf dem Weg,
Santa Maria, so komm doch mit uns.
Das Lied zeugt von kindlichem Vertrauen. Maria ist die Mutter, die Schwester, die mich begleitet, wenn ich sie brauche. Die meinen Lebensweg mit Höhen und Tiefen mitgeht. Die mich nicht verlässt besonders in den schweren Stunden. Das konnte ich gut hören und auch mitsingen. Denn das Lied greift auf, was der Text von Lukas über Maria, die Begleiterin, aussagt.
In diesen Tagen machte sich Maria auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa. Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet….
Und Maria blieb etwa drei Monate bei ihr.
(Lk 1,39. 40. 56a)
Aber ich hatte noch immer Zweifel. War die Marienfrömmigkeit nicht nur ein schöner Trost für die leidenden Menschen – von der Kirche und den Mächtigen nur zu gern gesehen? Begünstigte diese innige Frömmigkeit nicht eine Flucht vor der Realität mit ihren Problemen? Sollten die Menschen mit Maria an ihrer Seite ruhiggestellt werden, damit kein Zorn aufkommt angesichts der Ungerechtigkeiten und des Elends?
Doch auch hier änderte sich mit der Zeit meine Meinung. Bei den Treffen der Basisgemeinden, bei Versammlungen unserer Mütter im Heim, im Kreis der jungen Ordensschwestern und in Nachbarschaftskreisen gehörten Gebete und Lieder immer an den Anfang und das Ende der Veranstaltung. Auch hier wurde das Lied „Pelas estradas da vida“ mit Begeisterung gesungen, besonders die folgende Strophe.
Selbst wenn die Menschen sagen: „du kannst da nichts ändern“,
kämpf‘ für eine neue Welt der Einigkeit und des Friedens.
Oh, geh doch mit uns, geh mit auf dem Weg,
Santa Maria, so komm doch mit uns.
Oft folgte danach das Magnificat. Dieser Text gab den Menschen Kraft und Mut für ihren Lebenskampf. Neben dem Glauben an den rettenden Gott war der Glaube an Maria die Kraftquelle für ihren Einsatz gegen die Ungerechtigkeit.
Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.
(Lk 1, 46 – 55)
Wie wohl die historische Maria „wirklich“ war? Nicht einmal die Evangelisten sind ihr persönlich begegnet. Wir kennen nur deren schriftliche Zeugnisse, die auf mündlichen Überlieferungen und eigenen theologischen Interpretationen beruhen. Trotz aller Unsicherheit möchte ich diesen Aussagen vertrauen. Und so höre und lese ich von verschiedenen Facetten einer beeindruckenden Frau:
Maria – die Mutter Jesu
Maria – Schwester und Begleiterin
Maria – Vorbild im Glauben und im Einsatz gegen Ungerechtigkeit
Maria – die Gott nicht verdrängt, sondern seinen Willen und seine Größe deutlich macht
Im Nordosten Brasiliens bin ich Maria wieder nähergekommen. Ich habe gespürt, welche Kraft von ihr ausgeht. Und immer wieder wurde ich durch sie hingewiesen auf einen Gott, der ein Gott für uns Menschen ist, der eindeutig auf der Seite der Schwachen und Ausgestoßenen steht.
Auch in Deutschland hat sich m.M. nach die Marienverehrung vieler Gläubigen verändert, weg von der rein innerlichen Hingabe an die Gottesmutter. Die Frauen der Bewegung Maria 2.0 haben die Bedeutung Marias für ihren Glauben und ihren Kampf um Gleichberechtigung in der Kirche erkannt.
Für mich persönlich bleibt die „Beziehung“ zu Maria eine Herausforderung. Ich will sie nicht auf eine Rolle festlegen, die meinen Bedürfnissen und Wünschen entspricht. Ich will versuchen, mich immer wieder von den Aussagen des Neuen Testamentes korrigieren und überraschen zu lassen.
Anmerkungen
Pelas estradas da vida, nunca sozinho estás
Contigo pelo caminho, Santa Maria vai
Ó vem conosco, vem caminhar, Santa Maria vem
Ó vem conosco, vem caminhar, Santa Maria vem
Mesmo que digam os homens: “tu nada podes mudar”
Luta por um mundo novo, de unidade e paz
T/M: J.A. Espinosa
Der Text (4 Strophen in den Sprachen Spanisch, Deutsch, Portugiesisch und Italienisch) und die Melodie sind z.B. abgedruckt in Juntos cantando al Señor. Lateinamerikanisches Liederbuch, Hrsg. von ADVENIAT,
als Manuskript gedruckt, Essen 1992, S. 79 – 81.
Die deutsche Übersetzung der beiden zitierten Strophen, habe ich verändert. So ist sie näher am portugiesischen Text.